Gleis 9 3/4

Das Gleis neundreiviertel ist eines der Bahngleise am Londoner Bahnhof King's Cross. Das Besondere an diesem Gleis ist, dass es auf dem belebten Bahnhof nicht bekannt ist. Nur wer den magischen Zugang kennt, weiß um seine Existenz. Es befindet sich wie anzunehmen ist, zwischen Gleis neun und Gleis zehn, etwas näher an Gleis zehn. Von der Bahnhofshalle aus ist dort aber nur die Absperrung zwischen den Gleisen neun und zehn mit einem Fahrkartenschalter zu sehen.
Von dem verborgenen Gleis neundreiviertel aus verkehrt der Hogwarts Express, der am 1. September jeden Jahres um Punkt 11 Uhr nach Hogsmeade abfährt, und am Schuljahrsende die Schüler von Hogwarts wieder zum Bahnhof Kings Cross zurückbringt.
Magische Menschen gehen nur einzeln oder in Kleinstgruppen auf diese Weise zum Gleis. Deshalb fällt nicht auf, dass sie plötzlich wie vom Erdboden verschluckt werden. Bei der Ankunft des Schulzuges auf diesem Gleis funktioniert der Durchgang auf die gleiche Weise. Allerdings sieht diese Schleuse zwischen der magischen und der Muggelwelt vom Gleis her wie ein normales altmodisches schmiedeeisernes Tor aus. Wer hindurchgeht verschwindet und taucht in der Muggelwelt des Bahnhofs wieder auf. Ein schon ziemlich alter verhutzelter Wachmann steht neben dem Durchgangstor auf dem Gleis neundreiviertel und passt auf, dass die Ankommenden nur als Einzelne oder in Kleinstgruppen durch das Tor gehen und so wieder ganz unauffällig in der Bahnhofshalle auftauchen.

Es war der 1. September 1597. Der erste September, das war jetzt schon seid sieben Jahren immer ein ganz besonderer Tag für Amy. Der Tag, an dem sie sich mit ihrem Koffer in einem Zug auf den Weg nach Hogwarts machte, die Schule für Hexerei und Zauberei von Großbritannien. Aber dieses Mal war er noch viel besonderer als die vorherigen Jahre. Mal ganz abgesehen von ihrem ersten Jahr, als sie als eingeschüchterte Erstklässlerin auf dem Bahnsteig stand und die älteren Schüler bestaunte. Jetzt war sie eine der älteren Schülerinnen. Denn Heute würde sie zu ihrem letzten Jahr in Hogwarts aufbrechen. Der Abschlussjahrgang. Sie war jetzt eine Siebtklässlerin. Und sie würde ihren UTZ machen. Ob sie ihn schaffte, das war jedoch eine andere Frage. Sie war vielleicht ziemlich intelligent. Aber ihre Faulheit machte ihr manchmal wirklich zu schaffen. Sie hatte eigentlich nie Lust zu lernen. Doch sie musste. Wenn sie ihren Abschluss mit guten Noten schaffen wollte.

Doch darum machte Amy sich gerade keine Gedanken. Sie ging mit gehetzten, langen Schritten über den Bahnsteig. Sie hatte soeben die magische Barriere, welche zwischen den Bahnsteigen 9 und 10 lag überschritten und lief nun auf dem Bahnsteig 9 ¾. Der Hogwartsexpress stand schon startbereit auf den Gleisen und pustete Dampf in die Luft, welcher die Sicht vernebelte. Und das war nicht unbedingt gut für Amy. Dann jemanden suchen und nicht gut sehen macht sich nicht unbedingt gut zusammen. Und wen suchte sie? Ihre wohl einzige Freundin – Kate Smith. Das Mädchen hatte während der Sommerferien bei ihr gewohnt, um ihren, nicht unbedingt netten Eltern, nicht ausgesetzt zu sein, während 2 ganzen Monaten. Sie waren - logisch – auch zusammen zum Bahnsteig gekommen. Draußen regnete es wie aus Kübeln, doch diesmal waren die beiden ausgerüstet. Nicht wie vor den Ferien, als sie von einem Gewitter überrascht wurden. Allerdings hatten sie sich in dem Getümmel irgendwie verloren. Wo steckte Kate denn bloß? War sie vom Hogwartsexpress aufgefressen worden? Obwohl, der verschlang ja normalerweise nur Kohle und keine verrückte 7. Klässlerinnen. Herumrennen brachte allerdings auch nicht viel, fiel Amy plötzlich ein und blieb abrupt stehen. Sie stellte ihren Schrankkoffer neben sich und tippte mit dem Fuß ungeduldig auf den Boden. Wenn Kate nicht bald kam, dann würde sie eben in den Zug steigen und sie dort suchen. Es war nämlich schon viertel vor elf und der Zug würde in 15 Minuten abfahren und dann würde sie im Zug sitzen. Und Katie bestimmt auch. Selbst wenn sie vom Zug gefressen worden war, war sie ja irgendwie drin. Sie sollte sich mal keinen Kopf machen. Kate war alt genug um selber in einen Zug steigen zu können. Punkt.

Abwechselnd starrte Amy auf ihre Uhr oder beobachtete die Menschen, die auf dem Bahnsteig herumwuselten. Da war eine dreiköpfige Familie, Mutter, Vater und ihre kleine Tochter die bereits ihren Hogwartsumhang trug – allerdings ohne Wappen. Erstes Schuljahr also. Die Mutter schaute besorgt drein, der Vater stolz und das Mädchen hibbelig. Gleich daneben stand eine Gruppe älterer Schüler, welche lachten und redeten. Oft beneidete Amy solche Menschen. Menschen, welche viele Freunde hatten, beliebt waren und viel lachten. Sie war einsam, eher ernst und manchmal doch zu kindisch. Es machte ihr zu schaffen, dass kaum jemand sie mochte. Was machte sie falsch? Doch sie hatte beschlossen, sich selbst treu zu bleiben und sich nicht für andere zu verändern. Jemanden zu spielen, den sie gar nicht war. Das war nämlich noch viel armseliger als einsam zu sein. Und außerdem hatte sie ja ein paar Freunde. Zwar nur sehr wenige, aber auf diese konnte sie sich auch verlassen. Kate zum Beispiel. Sie waren beide ‚Freaks’, wie es ihre Mitschüler wohl ausdrücken würden. Aber sie hielten zusammen. Sie hatte Kate angeboten, die Ferien bei ihr zu verbringen, damit sie sich nicht mit ihren Eltern herumschlagen musste. Das hätten wahrscheinlich nicht unbedingt viele getan. Und Amely war sicher, dass Kate genau das gleiche auch für sie getan hätte. Besser ein paar richtig gute Freunde als ein Haufen Menschen, die sich nur für welche ausgeben und einem den Rücken zukehren, wenn alle anderen es auch tun. Sie sollte sich nicht dauernd selber bemitleiden. Es könnte schlimmer sein. Viel schlimmer.
Kaum hatte sie diesen Gedanken zu Ende gedacht, sah sie einen auf und abwippenden Kopf, dessen Ohren mit großen Blumenohrringen geschmückt waren auf sich zukommen. Kate, sie erkannte es sofort. Maly trug sehr gerne flippige Sachen und viel Schmuck. Sie war abergläubig wie kein zweiter und hatte tausende von Schutzarmbändern Ketten und was man sonst noch alles gegen böse Geister erfunden hatte. Amy belustigte das ganze leicht, doch sie zog Kate damit nicht auf. Warum sollte sie denn auch? Jeder hatte seine eigenen, kleinen Eigenarten. Sie selber lief ja immer mit einem kleinen Notizbuch herum und kritzelte manchmal wie wild darin. Da war doch nichts Schlimmes bei.
Kate war jetzt bei ihr angekommen und griff nach ihrem Handgelenk. Über die Begrüßung musste Amy lachen. „Ich hoffe du bist nicht sauer, dass ich dich jetzt nicht mehr davonrennen lasse um dich zu verstecken“, sagte sie und grinste Kate an, „ich dachte übrigens schon, der Hogwartsexpress hätte dich gefressen…“, fügte sie noch hinzu. Kaum hatte sie ausgesprochen, rief jemand ihre Namen. Verdutzt blickte Amy auf. Wer redete freiwillig mit den beiden Freaks Amy Finnigan und Kate Smith? Und war dabei auch noch freundlich? Bestimmt waren es keine Lästerschwestern aus Slytherin. Das klang dann nämlich meistens anders. Als wären sie zwei kleine Krümel und die Slytherins die Kuchen. Doch schließlich entdeckte Amy Finn Matthews, ein Junge im 6. Jahrgang, ebenfalls Ravenclaw. Er war noch immer nett zu ihr gewesen, eigentlich mochte sie ihn recht gut leiden. „Hey Finn“, begrüßte sie ihn also. „Na, auch gut geduscht worden?“ Es regnete noch immer in Strömen, die Regentropfen prasselten nur so nieder, und die meisten Menschen auf dem Bahnsteig trieften nur so vor Nässe.